"Lieber vom Leben gezeichnet, als von Sitte gemalt" ist einer dieser DDR-Sprüche, die wie Sediment im Fluss meiner Erinnerung liegen, von denen ich nicht weiß, warum ich sie kenne, die einfach da sind, ich muss nur reingreifen ins kalte Wasser und da steh ich, ratlos, mit einer Hand voll ewiger Kieselchen. Willi Sitte war ein Maler des "realistischen Sozialismus" in der DDR, über Jahrzehnte dann auch ein Funktionär der Staatspartei SED, der entschied, welche Künstler sich Künstler nennen durften, wer Ateliers, Farben, Pinsel bekam, und wer nicht. Nach dem Fall der Mauer wollte ihn niemand mehr ausstellen. Oder von ihm wissen. Eine erste Retrospektive auf sein Werk traute man sich zuerst in Halle an der Saale, vor zwei Jahren. Aron Boks ist 1997 in Wernigerode geboren und hat seinen “Onkel Willi” nie kennengelernt. Die DDR dementsprechend auch nicht. Vielleicht gerade deswegen hat er mit "Nackt in die DDR" ein Buch über ihn geschrieben. "Welche Worte findet ein 26-jähriger Poetry-Slammer aus Neukölln für den wohl umstrittensten Maler der DDR? Wieso hat seine Familie nicht nur positiv auf sein Vorhaben reagiert? Und was hat Aron Boks während seiner Recherche auch über sich selbst gelernt?", fragte sich die Autorin Sylvie Kürsten, die für das Podcast-Format "Deep Doku" des RBB mit Boks sprach. Unter anderem in der Sauna, weil Sitte so legendäre Fleischbilder gemalt habe, und Nacktsein auch so ein Nostalgiekultding. Was nicht wirklich Sinn macht, meiner Meinung nach, vielleicht ein eher symbolisches Schwitzen darstellt, vielleicht das Ausschwitzen von Klischees, vielleicht ein nackig machen einer bzw. mittlerweile mehrerer Generationen von Menschen, die ein paar Hüllen abwerfen wollen, unter denen sich ihre Herkunft und ihre eigene Geschichte verstecken; die sich mit dem Anblick stummer Kieselchen nicht abfinden möchten. Meine Empfehlung für diesen Podcast ist deshalb eher nicht in besonders gutem Storytelling oder Recherche, sondern vor allem darin begründet, dass er eine Möglichkeit ist hineinzuhören in diesen grummelnden, seufzenden und hoffenden Fluss, der die Geschichte der DDR ist.
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